Cannes Lions: Angela Ahrendts über den Menschen im Mittelpunkt
Es ist Freitagabend. In Cannes, an der französischen Riviera. Das Komitee der Cannes Lions hat zum Abschluss des Kongresses nun auch die letzten besten Arbeiten beim gleichnamigen Wettbewerb gekürt. Unter den Gewinnern ist mit insgesamt mehr als 20 Auszeichnungen auch Apple in den unterschiedlichsten Kategorien vertreten. Das Internationale Festival der Kreativität, wie es offiziell in der zweiten Zeile heisst, findet bereits seit 1956 statt und ist die größte und wohl wichtigste Veranstaltung für die Werbe- und Kommunikationsindustrie.
Die Verleihungen der für die Brache bedeutendsten Preise—der Stellenwert eines Löwen lässt sich mit der Goldenen Palme der Filmfestspiele oder gar dem Academy Award vergleichen—werden von einem siebentägigen Programm begleitet, das den Teilnehmern aus aller Welt die Möglichkeit bietet, sich zu präsentieren und unter Seinesgleichen fachzusimpeln.
Auch hier stand Apple zwischenzeitlich im Zentrum der Aufmerksamkeit als Angela Ahrendts, Senior Vice President of Retail, in einem Interview über die Zukunft der Apple Stores sprach und erklärte, warum an den mehr als 500 Standorten weltweit der Mensch im Mittelpunkt steht.
Angela Ahrendts, Senior Vice President of Retail, im Interview — #CannesLions
Angela Ahrendts im Interview
Der Einzelhandel in den USA kämpft bereits seit längerer Zeit mit einer großen Herausforderung: dem Internet. Insbesondere mit Amazon, falls man dem vermeintlichen Feind einen konkreteren Namen geben möchte. Immer mehr Kunden kaufen im Internet ein, die Umsätze zahlreicher Einzelhandelsketten gehen zurück, die Lage wird zusehends kritischer. Apple lässt sich von den scheinbar trüben Aussichten nicht besonders beeindrucken und investiert mehr als zuvor in den Ausbau bestehender Stores und in neue, architektonisch beeindruckende Standorte. Das Unternehmen investiert in Hardware, wie Angela Ahrendts die Apple Stores beschreibt, die später mit der Software, einem bunten Potpourri an Möglichkeiten, in den neuen imposanten Räumlichkeiten zum Leben erweckt wird.
"Der Einzelhandel stirbt nicht, aber er muss sich weiterentwickeln. Ich denke, er muss einen größeren Zweck dienen, als ausschließlich zu verkaufen.", kommentiert Angela Ahrendts die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung.
Die Managerin bezeichnet die Stores erneut als Apples "größtes Produkt" und formuliert im Gespräch mit Tor Myhren auf der Bühne des Grand Théâtre Lumière in Cannes konsequent eine klare Strategie, wie wir sie bereits im letzten Jahr in ähnlicher Form gehört haben. Die Einordnung als "größtes Produkt" verdient aber besonderer Aufmerksamkeit, denn es verändert den Stellenwert: Die Apple Stores fordern die gleiche Sorgfalt und Aufmerksamkeit wie beispielsweise das iPhone. Der Apple Store ist kein Ort mehr, wo man Produkte kauft. Es ist selbst zu einem Produkt geworden, fasst Jon Bird in einem Artikel treffend zusammen.
Angela Ahrendts: "Reimagining the Retail Experience" — Video: Cannes Lions
Angela Ahrendts, die im Jahr 2014 die Verantwortung über die Retail-Sparte von Apple übernommen hat, sieht in den Apple Stores einen Ort für Menschen, die lernen und Erfahrungen sammeln wollen oder sich mit anderen austauschen möchten. Ein Grund, warum in der Regel mehr als ein Drittel der Verkaufsfläche dem so genannten Forum für das hauseigenen Programm Today at Apple gewidmet ist. Der Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe, die fast drei Jahre Vorbereitungszeit beanspruchte und schliesslich im Mai 2017 weltweit startete, liegt insbesondere auf Bildung. Dies sowohl im Hinblick darauf, den Menschen zu helfen, die Technologien zu verstehen, als auch auf den kreativen und freien Künsten.
"We’re not opening small stores, we’re taking the small stores and doubling or tripling the size of them to accommodate a forum and we’re only opening big stores in the future that can handle it."
Die selbstauferlegte Verpflichtung, mit den als "modern-day town square" konzipierten Standorten eine wichtige und edukative Rolle in der Nachbarschaft zu spielen, sind Eigenschaften, die laut der Managerin beim Kunden auf eine positive Art und Weise nachhaltig wirken werden. Als größtes Technologieunternehmen steht Apple in der Verantwortung, in die Menschen auf der Welt zu investieren.
"Apple is in a leadership position when it comes to environmental responsibility and we’ve said in retail that we have a human responsibility."
"Jedes Unternehmen ist nur dann langfristig erfolgreich, wenn es einen Sinn in der Gesellschaft hat und einen Wert für die verschiedenen Interessensgruppen schafft.", betont auch die Boston Consulting Group, einer der führenden Managementberatungen der Welt. "Die größte Chance für jedes Unternehmen ist es heutzutage, in Bildung zu investieren. Es ist gleichzeitig die größt mögliche Investition in die eigene Zukunft." Demnach ist der strategische Ansatz von Apple heutzutage eine durchaus populäre Erkenntnis und eine nachvollziehbare Entscheidung.
Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es besondere Mitarbeiter und einer außerordentlich Beziehung zu ihnen. Aus diesem Grund werden Apple Store-Mitarbeiter für ihre emphatischen und kreativen Fähigkeiten und nicht aufgrund ihres Verkaufstalents eingestellt, erklärt Angela Ahrendts. Sie müssen auch keine Quoten erfüllen und erhalten auch keine Provision.
"They’re our ambassadors, they’re our greatest differentiator. This is something that Apple has that Amazon and Alibaba and nobody else has – people on the front line. And remember they’re hired to this day to enrich lives."
Vor mehr siebzehn Jahren beauftragte Steve Jobs seine ersten Mitarbeiter damit, "das Leben der Menschen zu bereichern". In Cannes betont Angela Ahrendts auf seinen Worten aufbauend: "It is in Apple’s DNA that technology alone is not enough—it’s technology married with liberal arts, married with the humanities, that impacts the world and makes our heart sing." Der Leitfaden für die Mitarbeiter, auch Credo genannt, trägt auch heute noch die Überschrift "Das Leben besser machen".
Angela Ahrendts: "Reimagining the Retail Experience" — Video: Cannes Lions
Standorte wie Apple Michigan Avenue in Chicago, der zukünftige Apple Piazza Liberty in Mailand ("It doesn’t open for another month or so.") oder Apple Carnegie Library in Washington D.C. ("It opens up at the end of the year"), der laut Angela Ahrendts zum größten Unterrichtsraum für Lehrer und Schüler werden soll, sind allesamt Ausdruck der wegweisenden Strategie von Apple für seine Brick and Mortar-Präsenz, und gute Beispiele der architektonisch immer anspruchsvolleren "Hardware".
"Today at Apple" — Video:
Ankündigungsmotive für 'Today at Apple'
Mehrere Auszeichnungen für 'Today at Apple'
Das Konzept von Today at Apple und seine weltweite Umsetzung hat die Jury des Cannes Lions International Festival of Creativity überzeugt. Die Veranstaltungsreihe—also die "Software" der Apple Stores—gewann in diesem Jahr insgesamt zwei der begehrten Löwen: einen goldenen "Brand Experience & Activation"-Löwen in der Kategorie "Customer Retail and In-Store Experience" und den Titanium-Löwen, der "bahnbrechende und innovative Ideen" auszeichnet.
"In a time where retail is dying, this brand is figuring out to be meaningful in people's lives today and, I think, for another hundred years," begründet Rob Reilly, der diesjährige Vorsitzender der Jury, die Entscheidung.
Ankündigungsmotive für 'Today at Apple'
Auf welche Art und Weise Today at Apple die Stores langfristig verändert und sich die gewünschten Ziele mit den wöchentlich rund 18 000 Session weltweit erfüllen, lässt sich in Deutschland bisher leider nicht wirklich nachvollziehen. Während in den größeren Apple Stores weltweit, den s.g. "high-profile stores", kontinuierlich namhafte Künstler, wie aktuell beispielsweise Mike Shinoda von Linkin Park oder Florence Welch von Florence + the Machine, bekannte Fotografen, wie Braden Summers, und andere, vor allem auch lokale Talente für Veranstaltungen gebucht werden, scheint die Zeit in der Bundesrepublik (und gefühlt auch an 90% aller Standorte weltweit) eher still zu stehen. Auch wenn ich die "normalen" Sessions keinesfalls unterschätzen möchten, Gäste sind eine Rarität oder werden gänzlich vermisst. Die meisten Seminare werden von den Creative Pros geleitet, einer für Today at Apple geschaffenen Position. Sie unterscheiden sich inhaltlich damit aber kaum von den auch vor Today at Apple möglichen Angeboten, auch wenn ein deutlich größeres Spektrum an Themen abgedeckt ist, und dürften mit einem im Vergleich eher zurückhaltenden Andrang verbunden sein. Das mag, insbesondere in Deutschland, durchaus mit der bestehenden Infrastruktur zusammenhängen, die Apple bemüht ist, zu modernisieren: Ein Forum mit Videoleinwand gibt es bisher lediglich in der Schildergasse in Köln, die Berliner Bühne von Apple Kurfürstendamm hat unserem Wissen nach, lange Zeit keine Auftritte mehr erlebt und in Wien sind auf Nachfrage bei der Eröffnung keine größeren Veranstaltungen oder Performances geplant. Vielleicht ist das ein sehr subjektiver Eindruck, aber einer, den wir an der Stelle nicht verdrängen können.
ABIR im Apple Williamsburg in New York — Foto: Dane Isaac
Mike Shinoda im Apple Williamsburg — Foto: Pranay Pareek
Eigentlich schade. Den Berichten und Bildern im Internet zu beurteilen, erfreut sich Today at Apple an Standorten wie Apple Michigan Avenue, Apple Williamsburg und Apple Regent Street großer und nachvollziehbarer Beliebtheit. Wer würde nicht gern seinen musikalischen Idol treffen und mit ihm musizieren oder sich Tipps für das Zeichnen direkt von Narinder Sagoo von Foster + Partners holen? Die Auszeichnung ist verdient, nur vielleicht ist sie noch nicht so konsequent und überall mit gleicher Intensität umgesetzt, wie Angela Ahrendts es uns heute glauben lassen möchte.
Habt ihr andere Erfahrungen gemacht? Schreibt uns!
Nominiert war übrigens dieses Jahr u.a. auch das Ankündigungsmotiv von Apple Kärntner Straße in Wien. Die Hommage an die Wiener Werkstaetten ging aber trotz einem durchdachten Konzept und beeindruckender Umsetzung leider leer aus. Ein Auszug aus der offiziellen Beschreibung:
"By combining Apple’s belief in the importance of design and our recognition of a locally relevant arts and crafts movement, we were able to create an opening that spoke directly to the Viennese people and displayed a deep knowledge of, as well as respect for, the city’s cultural legacy."
Apple Kärntner Straße vor der offiziellen Eröffnung am 24. Februar 2018 — Foto: Apple
Apple ist beim Cannes Lions generell kein unbekannter Teilnehmer: 2014 sprach Chef-Designer Jony Ive mit Bono, dem Frontmann von U2 über Product Red, im Jahr 2015 wurden Apple und die Agentur TBWA/Media Arts Lab für die sehr erfolgreiche und immer wieder neu aufgelegte Kampagne "Shot on iPhone" mehrfach ausgezeichnet. In den vergangenen Jahren sind kontinuierlich mehrere Werbefilme von Apple nominiert oder ausgezeichnet worden, zuletzt 2017 der wenig zurückhaltenden Spot "Bulbs" für das MacBook Pro, der die TouchBar in eine Reihe mit den bedeutendsten Erfindungen und Erkenntnissen der Welt stellt.